Stoffe

Die Mutprobe ist, zu vergeben

Das letzte Schuljahr hat begonnnen, für Sascha stehen die Zeichen auf Veränderung. Damit ist „Halber Löwe“ direkt entschlüsselt, aber die Botschaft verdichtet sich noch einmal in einer Kindheitsszene: Am Tag der Einschulung geht ein Mädchen abends ohne den geliebten Oktopus aus Plüsch schlafen: „Ich bin jetzt groß“, begründet das Kind, „ich brauche kein Kuscheltier mehr.“

Neben dem Mädchen steht Sascha, der zehn Jahre ältere Bruder. Er ist längst groß, trotzdem wird ihm mulmig. Während sein Kumpel Jörn, genannt Jarno, den Ausbildungsplatz im Blick hat, fehlt Sascha der Plan für die Zukunft. Dabei kommt er in der Schule mit. Es ist die Frage, wie er zu sich findet, die ihn umtreibt. Die Antwort gibt ein Coming of age mit gelungenen Twists, der dritte Roman des Leipzigers Johannes Herwig.

Seine Struktur im Leben hat sich Sascha immer selbst geschaffen; mit dem Mut zur Lücke. Nach dem Unfalltod des Vaters, an den der Junge nur schemenhafte Erinnerungen hat, fehlte die männliche Bezugsperson. Die Mutter brachte ihn und sich als Krankenschwester im Schichtdienst durch. Dann kamen die Wende, kurzzeitig ein Stiefvater und langfristig eine jüngere Schwester, um die sich Sascha fürsorglich kümmert, wenn die Mutter nicht da ist. Sich selbst in Balance hält er durch die Clique: Jarno, Steve, genannt Engel, und Timo. Zu viert haben sie sich in einem Abbruchhaus eingerichtet, hängen gemeinsam ab, fordern sich gegenseitig heraus. Challenges heißen noch Mutproben. Seit der Wiedervereinigung sind erst ein paar Jahre vergangen, Leipzig ist noch nicht das durchsanierte Hypezig von heute, sondern dem Verfall preisgegeben. An der Hausfassade bröckelt der Putz, das Relief eines Löwen hat die eine Gesichtshälfte schon eingebüßt. Dieser Anblick, der halbe Löwe, gibt dem Buch den Titel. Oder: die eine Hälfte davon.

Als 1989 die Mauer fiel war der Autor zehn, plusminus so alt wie seine Titelfiguren. Das Gespür für das Stirb-und-werde jener Jahre hat er bereits 2020 mit dem Sound des Leipzigs der Nachwendezeit auf Papier gebannt, so aufrichtig, dass sein Roman „Scherbenhelden“ Kreise zog und inzwischen auch als Theaterproduktion läuft. Es übersetzt das Damals ins Heute, wo es verarbeitet werden kann. Auch „Halber Löwe“ ist eine Pathologie der Nachwendejugend, die durchzogen ist von tektonischen Rissen, aus denen Neues hervorbricht, ebenso kraftvoll wie unbestimmt. Die vier jungen Männer im Abbruchhaus schwanken. Das Land ihrer Kindheit ist verschwunden und mit ihm ein Teil ihres Lebens. Alle Erwachsenen, die orientierend auf die Clique einwirken könnten, sind mit sich selbst befasst, überfordert oder sprachlos.

Doch die Leistung des Coming of Age, egal ob wie hier zeithistorisch maximalgefordert oder nicht, besteht darin, dass es ohnehin um den eigenen Weg geht. Das ist Anlass zur Hoffnung, auch wenn das Leben keine Struktur hat, in die man sich zurückfallen lassen kann, sollte der erste Versuch bei sich anzukommen scheitern. Dort, wo sie den jungen Leipzigern fehlt, halten sie aneinander fest. Dass das eine Verbindung auf Zeit ist, deutet sich an. Das Buch beschreibt, wie unterschiedlich Sascha, Timo, Jarno und Engel darum ringen, klarzukommen – bis zum Moment, da Marcel auftaucht, der Neue aus Saschas Klasse. Dessen kurze, phönixhafte Anwesenheit in der Geschichte reicht aus, um Katalysator für das Ende der Clique zu werden. Dabei sein, das macht Johannes Herwig klar, kann warten. Dass man zu sich selbst steht, geht vor. Für Sascha, der zum zweiten Mal nach dem Tod des Vaters mit einem Unglück konfrontiert wird, folgt auf das Fallen ein harter Aufprall (auf der Polizeiwache), ehe die Katharsis aus Schuld und Vergebung ausgestanden ist. Die größte Mutprobe ist das Leben selbst. Am Ende hat Sascha zu seiner Sprache gefunden und wird seine fehlende Hälfte früher oder später ergänzt haben. Herwigs „Halber Löwe“ (auch eine Hommage an Leipzig, das den Löwen im Wappen hat), zieht literarisch noch einmal den Hut vor den Menschen seiner Generation, die an der Wende gewachsen sind, auch und trotz stumm gewordener Eltern, für das Buch zugleich Trauerarbeit übernimmt.

Ab 14 Jahre

Fotos: Autor/privat