Stoffe

(Wie) Wird die Wende weitererzählt?

Seit 31 Jahren ist die Berliner Mauer Geschichte. Ist der Spirit der Friedlichen Revolution auserzählt? Vielleicht. Warum es sich trotzdem lohnt, dass Kinder- und Jugendbücher auf die Wende als Zäsur eingehen.

Nino ist nicht auf Krawall gebürstet, wenn er mit seinen Kumpels durch das Leipzig der 1990er Jahre streift. Allerdings sind diese Freunde Punks, mindestens einem von ihnen haftet immer irgendwie die Aura des Störenfrieds an; Alkohol, Drogen, Diebstähle. Es ist das Extrembeispiel einer Jugendkultur, die Johannes Herwig vor seinem Leser ausbreitet – und  ein Extrembeispiel von Zusammenhalt. Nino fühlt sich aufgehoben. Einen anderen Halt, im Elternhaus etwa, hat der 15-Jährige nicht. Scherbenhelden heißt das Buch, das den Charakter einer Generation wie unter einem Brennglas analysiert.

„Dass sich Jugendliche abgrenzen, ist normal. In den 1990er Jahren kam im Osten hinzu, dass die Eltern gedanklich weg waren.

Johannes Herwig

„Die Wende hatte die Erwachsenen absorbiert, zumindest einige Jahre lang“, beschreibt der Leipziger Autor. Der Prozess, sich selbst neu zu erfinden und im vereinten Deutschland ihren Platz zu finden, hat den Ostdeutschen viel abverlangt – und stellte wiederum deren Kinder vor die Herausforderung, einen Freiheitsbegriff anzuwenden, den ihre Eltern nicht kannten. „Den Kindern wurden die Eltern fremd.“ Das Nachwendejahrzehnt war für die einen ein Experiment, für die andere eine Erfahrung von Sprachlosigkeit.

Johannes Herwig, Jg. 1979, ist Leipziger. Sein Roman Scherbenhelden, erschienen 2020 bei Gerstenberg (272 S., 16 Euro) und richtet sich an Jugendlich ab 14 Jahren.


Johannes Herwigs Buch fängt einen Ausschnitt dieser Stimmung ein. Es ist kein Wenderoman, mehr Zeitdokument einer Jugend in den Neunzigern. Die Konflikte und Grenzerfahrungen des Coming of Age sind Gemeinplätze, zugespitzte gleichwohl, aber jungen Lesern zuzumuten. Außergewöhnlich macht sie die behutsam aufgebaute Kulisse, bestimmt von der Pathologie der alles andere als wiedervereinten Bevölkerung.

Unwesentlich jünger als Nino ist René, dessen Vater in Norbert Zähringers Buch Zorro Vela die NVA-Truppen an der innerdeutschen Grenze in Thüringen befehligt, als dort im Januar 1989 ein Außerirdischer landet, der Titelheld. Gemeinsam mit vier Kindern, René ist eins davon, verhindert Zorro kurz vor dem Fall der Mauer die Zerstörung der Erde durch feindliche Aliens. Die Herkunft der Figuren, zwei Kinder sind aus der BRD, zwei aus der DDR, spielt eine untergeordnete Rolle. Es ist ihre Mission, die sie verbindet. Sie sind Außenseiter in der Schule und ihre Eltern werden langsam peinlich; Pubertät sucht sich in jedem System ihre Nischen. Norbert Zähringer macht den Schritt Richtung Science Fiction bewusst, das historische Datum ist zwar Anlass seiner Geschichte, bestimmt sie aber nicht.

„Die Verwerfungen, die sich durch die Wiedervereinigung ergeben haben, sind für junge Leser schwer nachvollziehbar, da muss die Identifikation schon über eine andere Ebene laufen.“

Norbert Zähringer

In Zorro Vela ist der dramaturgische Kniff der Außerirdische, dem das geteilte Land schräg vorkommt. „Die Konstellation wird noch verstärkt dadurch, dass auf beiden Seiten der Mauern Menschen lebten, die ungefähr dieselbe historische Erfahrung gemacht hatten und deren Gesellschaft noch ziemlich homogen war“, vergleicht der Berliner Autor.

Aus heutiger Sicht haben Jugendbücher, wenn sie erzählen wollen, wie prinzipiell spannend das Heranwachsen in den 1990er und 2000er Jahren im Osten Deutschlands war, zwei Herausforderungen zu bewältigen: Erstens, sie erzählen von eben jener homogeneren Gesellschaft, die weder von Globalisierung noch von Web 2.0 geprägt war, es aber bald sein würde. Gerade für die Menschen im Osten war die Geschwindigkeit, mit der sie sich neu erfinden mussten, enorm. „Das war ein richtiger Modernisierungsdruck“, reflektiert Johannes Herwig. Zweitens, die Bücher müssen die psychologische Zäsur der Nachwendezeit erfassen, die nicht einmal jedem Westdeutschen so richtig bewusst war: „Die DDR gab es nicht mehr. Doch die BRD war 1990 so, wie man sie kannte, auch zu Ende“, meint Norbert Zähringer, „ohne, dass sie ein allgemeines Wir-Gefühl ersetzt hätte.“

Norbert Zähringer, geboren 1967 in Stuttgart und aufgewachsen in Wiesbaden, lebt in Berlin. Sein Kinderbuch Zoro Vela (336 Seiten, 15 Euro, ab 10 Jahre) erschien 2019 bei Thienemann-Esslinger.


Herwig, dessen Nino am Ende seinen Weg findet und damit die Erfahrung vieler, wenngleich nicht aller junger Ostdeutschen teilt, hält viel davon, „mehr miteinander zu sprechen, statt übereinander“ und die Abwägung der Positionen nicht verklärend – in Abhängigkeit von Jubiläen – zu vollziehen: „Ich gehe ja nicht mit der Einstellung heran ,Ich erzähle euch von der Zeit damals‘, sondern mit dem Anspruch, echt zu sein. Der Osten fühlte sich nach der Wende schon häufig als Verlierer und Bittsteller gegenüber dem Westen, das kostete Augenhöhe.“ Darauf könnten gute Jugendbücher eingehen. Norbert Zähringer sieht das Versäumnis „im nachlassenden Interesse aneinander und dem Fehlen einer Vision für die gemeinsame Zukunft“. Dass er kurz nach der Wende nach (Ost-)Berlin zog und viele persönliche Begegnungen mit den Menschen dort machte, auch seine spätere Frau traf, habe ihn dazu gebracht, mehr und genauer zuzuhören. So könnte es funktionieren, die Wende im Kinder- und Jugendbuch weiterzuerzählen, nicht im Rekurs auf die DDR sondern von der ersten Zeit ohne sie. Das Coming of Age dieser Generation erzählt auch vom Zustandekommen einer Gesellschaft, die verschiedene Geschwindigkeiten gekannt hat.

Der Beitrag erschien zuerst in der Berliner Zeitung.

Fotos: Juliane Loos / Isabella Scheel, Thienemann-Esslinger