Rückschau: AusLESE 2019

Nora Alexander: Opa und die Nacht der Wölfe. Oetinger, 208 Seiten, 14 Euro.

Seitdem Opa ins Haus von Ollis Familie gezogen ist, bleibt dem Jungen kaum mehr Zeit für seine Bande. Olli ist Mitglied der „Adler“, seine größte Auszeichnung. Die ist nun gefährdet, weil er ständig auf Opa aufpassen muss. Sollte er ihn etwa zur Bandenrunde mitnehmen? An sich ideal, wäre Opa nicht so schräg drauf: Er isst Eis mit Ketchup, wandert nachts herum oder vergisst, dass man zu Pipi machen aufs Klo geht. Opa hat Demenz. Eines Nachts verschwindet er. Olli merkt es zuerst. Er ist es auch, der dem Wolf begegnet, dort, wo er Opa vermutete. Hat er sich etwa verwandelt? Die Autorin legt Erfahrungen aus 20 Berufsjahren in der Pflege dem einfühlsam verfassten und dennoch leicht verständlichen Kinderbuch zugrunde.
empfohlenes Lesealter: Kl. 3/4.
Schlagworte: Familie, Freundschaft, Großeltern, Leben mit Demenz, Alter.

Eoin Colfer: Der Hund, der sein Bellen verlor. Orell Füssli, 142 Seiten, 12,95 Euro.


Bislang durfte Patrick wegen Papas Tierhaarallergie kein Haustier haben. Plötzlich geht es. Sofort beschleicht den Leser der Verdacht: Die Eltern trennen sich, der Hund soll den Jungen über den Verlust hinwegtrösten. So kommt es, damit ist die Geschichte aber nicht beendet. Sie wechselt die Ebene: Der Welpe, den Patrick adoptiert, wurde ausgesetzt und hat beschlossen, keine Aufmerksamkeit mehr zu erregen. Deshalb bellt „Oz“ nicht. Das Buch ist eine Parabel, die dem Hund die Rolle des verlassenen Kindes zuteilt. Patrick lernt, seine Trauer über die Trennung der Eltern zu verarbeiten, indem er „Oz“ beibringt, das Verhalten eines Menschen nicht zu pauschalisieren. Ein Kind wird nicht abgelehnt, weil es „falsch“ ist, sondern weil die Erwachsenen emotional sprachlos sind. Das überraschendste Kinderbuch von Eoin Colfer („Artemis Fowl“).
empfohlenes Lesealter: Kl. 3/4.
Schlagworte: Trennung, Tiere, Haustier, Verantwortung, Verlust, Familie.

Alan Gratz: Amy und die geheime Bibliothek. Hanser, 248 Seiten, 15 Euro.

Lesen bedeutet Amy alles. In der Bibliothek ihrer Schule gibt es kaum ein Buch, das sie noch nicht entliehen hat. Als der Schulausschuss aber festlegt, beliebte Titel aus den Regalen zu verbannen, weil ihr Inhalt angeblich nicht kindgerecht ausfällt, ist die Oase bedroht. Amy wehrt sich, schließlich hat sie die „gefährlichen“ Bücher gelesen – geschadet haben ihr die Geschichten nicht. Dass Eltern bestimmen, welche Bücher Kinder lesen, findet Amy manipulativ. Sie gründet mit ihren Freunden die geheime Bibliothek. In ihrem Schließfach stapeln sich bald sämtliche der aussortierten Bände, und der Kreis ihrer Leser wächst und wächst. Die schöne Geschichte behandelt ein ernstes Thema: Meinungsfreiheit gilt nicht nur für Erwachsene. Auch Kinder haben Rechte. Amy ist eine begeisternde, kämpferische Titelheldin, die nur ein wenig zu oft den Mund hält – obwohl sie die richtigen Worte im Kopf hat. Die Erzählung basiert auf einer wahren Begebenheit aus den USA!
empfohlenes Lesealter: Kl. 5
Schlagworte: Lesen, Schule, Pubertät, Konflikt, Freundschaft, Freiheit, Meinungsfreiheit, USA

Lena Hach: Grüne Gurken. Mixtvision. 224 Seiten, 17 Euro.

Lotte ist sauer, weil sie ihre Eltern per Umzug nach Berlin-Kreuzberg verfrachtet haben. Als sie abends im neuen Kiez Milchreis kaufen will, sperrt sie sich aus, findet aber Obdach im Späti. Dort gibt es keinen Milchreis, dafür gibt es Yunus und Miri, die netten Inhaber, die Lotte im Laden jobben lassen. Und es gibt Vincent, den Jungen, der sich immer montags Weingummis kauft: Grüne Gurken. Sein schräger Humor nimmt Lotte sofort für ihn ein. Der Grund, warum er die Gurken kauft, birgt ebenfalls eine schöne Botschaft. Den Ton ihrer Zielgruppe zu treffen, gelingt Lena Hach ausgezeichnet, auch wenn sie Lottes Tollpatschigkeit bisweilen übertreibt. Extreme gehören zur Pubertät dazu. Wie das Mädchen versucht, zu einer eigenen Stimme zu finden, die zudem von Vincent gehört wird, ist begeisternd nahe an der Wirklichkeit. Bonus: Tolle Illustrationen von Katja Dittrich!
empfohlenes Lesealter: Kl. 6
Schlagworte: Berlin, Erste Liebe, Coming of Age, Pubertät, Freundschaft

Enne Koens: Ich bin Vincent und ich habe keine Angst. Gerstenberg, 192 Seiten, 15 Euro.

Niemand kennt sich so gut mit Überlebenstechniken aus wie Vincent. Auf Klassenfahrt will er sie einsetzten, um zu verschwinden. Denn Vincent wird gemobbt. Die Reise steigert das Risiko, geärgert zu werden. Vincents Eltern nehmen die Angst des Jungen nicht ernst. Doch die neue Mitschülerin Jaqueline, genannt „die Jacke“ hält zu ihm. Sie kontert blöde Sprüche. Enne Koens zeigt in ihrer Geschichte klug auf, wie viele Erwachsene die Mobbing-Angst ihrer Kinder abtun, sei es aus eigener Überforderung, sei es aus Ratlosigkeit. Das Buch appelliert an Mobbing-Opfer und deren Umfeld, Klartext zu reden. Auch „Täter“ benötigen Hilfe, ihr Verhalten ist nicht grundlos. Vincents Peiniger wird nicht bestraft, was in der Logik junger Leser fragwürdig ist. Dennoch: Ein gutes, anspruchsvolles Buch, über das man reden sollte.
empfohlenes Lesealter: Kl. 5/6
Schlagworte: Schule, Mobbing, Klassenfahrt, Außenseiter, Survival, Freundschaft

Andrea Schomburg: Die besten Tantenretter der Welt, Hummelburg, 224 Seiten, 12,95 Euro.

Jonas und Fabi leben bei ihrer Tante Erdmute. Die Dame ist sympathisch-schräg, sie singt und reimt mindestens so intensiv wie Paul Maars „Sams“. Schräg ist auch Erdmutes Second-Hand-Laden. Der läuft, doch dann flattert eine absurde Mieterhöhung ins Haus. Klar ist: Erdmute braucht Geld. Sie fackelt nicht lange. Sie überfällt eine Bank. Jonas und Fabi sind entsetzt. In einem Hotel taucht das Trio ab, dort schließt sich Johanna den Jungs an. Gemeinsam retten sie Erdmutes Laden, entlarven nebenbei einen echten Ganoven und sorgen für ein furioses Finale. Lesespaß mit viel Situationskomik. Für junge Leser schon sehr gut selbst zu  bewältigen. 
empfohlenes Lesealter: Kl. 3/4
Schlagworte: Abenteuer, Detektive, Brüder, Diebstahl, Überfall, Hotel

Lara Schützsack: Sonne, Moon und Sterne. Sauerländer, 240 Seiten, 14 Euro.
„Gustav“ in diesem Buch ist ein Mädchen, dessen wirklicher Name nicht erwähnt ist. Das kann junge Leser irritieren, ansonsten ist die Erzählung genial. Gustav ist fast zwölf und die einzige, die zu Hause noch durchsieht. Die Eltern brauchen eine Auszeit voneinander, die älteren Schwestern sind pubertätszickig, dann fallen auch noch die Ferien aus. Gustav hält sich an ihren Mitschüler Moon. Moon gilt in der Klasse als Freak. Gustav merkt: Das Urteil ist ihr egal. Lara Schützsack zeigt, vor welchen Aufgaben Kinder stehen: Das hohe Maß individueller Freiheit, das (erwachsene) Menschen genießen, senkt ihre Bereitschaft, Verantwortung zu tragen. Gustav trifft dieses Unvermögen ihrer Familie besonders hart. Sie hält an ihrer Hündin fest, dem letzten Anker der Kindheit. Als diese stirbt, begreift Gustav, dass sie die Zeit nicht zurückdrehen kann. Und stellt fest: Das tut weniger weh als gedacht.
empfohlenes Lesealter: Kl. 4
Schalgworte: Familie, Trennung, Pubertät, Haustier, Freundschaft, Ferien

Gregor Wolf: Die abenteuerliche Reise des Leopold Morsch. Ueberreuter, 320 S., 14,95 Euro.

Der Herr der Ringe trifft den Zauberer von Oz. Die tolle Abenteuergeschichte führt eine eigensinnige Reisegruppe in ein entferntes Königreich – um es zu retten. Die Geschichte hält für jeden Leser den passenden Charakter bereit: Einen jungen Prinzen, dessen Erbe in Gefahr ist, einen tollpatschigen Ritter, einen sprechenden Baum und Leopold Morsch, der dem Buch seinen Namen gibt. Morsch erinnert an Petterson aus Petterson und Findus, ein gutmütiger Zeitgenosse, der über sich hinauswächst, als ihm ein wertvolles Muschelkästchen gestohlen wird. Der ungewöhnliche Besitz spricht und birgt ein Geheimnis. Munterer Erzählton und gutes -tempo, bei dem die 320 Seiten nicht ins Gewicht fallen.
empfohlenes Lesealter: Kl. 4/5
Schlagworte: Abenteuer, Reise, Fantasie, Ritter, Königreich, Zauber, Rätsel


Norbert Zähringer: Zorro Vela. Thienemann, 336 Seiten, 15 Euro.
Mut zum Absurden – mit einem Abenteuer nach der wahren Geschichte. 1989 wird ein Außerirdischer zur Erde geschickt, um sie vorm Untergang zu bewahren, die ein Krieg anstelle der friedlichen Revolution bedeutet hätte. Getarnt als Comicheld Zorro, landet er in einem Dorf in Südthüringen, das die Grenze nach Bayern mittig teilt. Unterstützt von vier Kindern, einer Schildkröte, magischen Brillen und futuristischen Fernbedienungen, ist der Kalte Krieg bald Geschichte. Den Schwerpunkt legt die muntere Erzählung mit ihrem wunderbar getroffenen Alien-Helden auf das Handeln der Kinder, die sich, ehe überhaupt eine Grenze aufgeht, längst als Team Einheit verstehen.  Eine authentische Erzählung über das Ende der deutschen Teilung erwartet man besser nicht, davon abgesehen ist die Geschichte stark. Besonders, wenn Zorro am Ende erneut zum Gestaltwandler wird und in eine besondere Rolle schlüpft! Achtung, Kinderreporter! Der Buchtitel zeigt Zorros Schatten vor der Silhouette des geteilten Berlins. Das ist nicht schlüssig – das Buch spielt ganz woanders.
empfohlenes Lesealter: Kl. 4
Schlagworte: Abenteuer, 1989, Revolution, Mauerfall, Grenzöffnung, Einheit, Thüringen, Bayern, Außerirdischer, Bande, Zorro