Bibliothek & Schule, Lesefördernde

Auf Themensuche im Leselabor

Seit 25 Jahren bekommen SchülerInnen der 4. und 5. Klassen zum Welttag des Buches den Band „Ich schenk‘ dir eine Geschichte“. Bis vor der Pandemie erhielt jährlich mehr als eine Million Kinder das Büchlein. 2022 sind veranstaltende Buchhandlungen zurückhaltend geworden, nachdem sie die Erfahrung machen mussten, dass Bücher liegenblieben oder Schulen nach monatelangen Schließungen unerreichbar waren. Bettina Braun, die als Literaturpädagogin die Schulbibliothek „Lesekeller“ der Adolf-Glassbrenner-Grundschule in Berlin-Mitte leitet, hielt ihre Räume offen, als die öffentlichen Bibliotheken schließen mussten. Sie findet: „Das Buch ist das neue Medium.“

Die Rückkehr zum gedruckten Buch ist nach zwei Corona-Schuljahren bei vielen Kindern ein langer Weg. Wie nimmt man den am besten in Angriff?
Bettina Braun: Das Wichtigste sind identitätsstiftende Inhalte, Geschichten, die das Herz öffnen. Wenn es ein Buch schafft, die Kinder abzuholen, ist das ein großer Schritt in die richtige Richtung. Für jedes Kind gibt es das passende Buch, davon bin ich überzeugt. Man muss dieses Buch nur finden.

Wo sucht man danach?
BB: In Bibliotheken haben Kinder die Möglichkeit, sich die Bücher anzuschauen und auszuprobieren, auch wenn und trotzdem die Eltern sagen „dafür bist du noch zu groß“ oder „dafür bist du schon zu klein“.

„Bibliotheken sind tolle Leselabore um herauszufinden,
was mein Thema ist.“

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels hat den Lockdown 2020 analysiert und festgestellt, dass 43 Prozent der Deutschen mehr Bücher gelesen haben. Haben Sie diese Steigerung auch so erlebt?
BB: Tatsächlich kann ich bestätigen, dass Kinder aus bildungsnahen Familien mehr gelesen haben. Im Lockdown 2020 blieb unsere Schulbibliothek offen. Auf diese Weise konnten wir Familien noch mit Büchern versorgen, als die öffentlichen Bibliotheken wochenlang geschlossen waren. Die, die kamen, haben mehr gelesen. Dass die Beobachtung aber für alle Bevölkerungsschichten gilt und auf jeden kulturellen Hintergrund der Lesenden anwendbar ist, würde ich nicht verallgemeinern. Zumal sich die Zahlen des Börsenvereins auf den Buchhandel beziehen, also auf die Verkäufe: Bei Eltern, die selbst gerne lesen und Bücher kaufen, haben Kinder den kürzeren Weg zu Buch.

Wobei auch die bildungsnahen Familien weniger Bücher im Wohnzimmer stehen haben. Teilweise richtet sich ihr Fokus inzwischen stärker auf die digitalen Medien.
BB: Das ist richtig. Ich finde gerade deshalb: Das Buch das neue Medium und für Kinder so besonders, weil sie nicht mehr automatisch mit Büchern aufwachsen.

Das Eintauchen in schön, „identitätsstiftende Bücher“, fällt Kindern nach zwei Pandemie-Schuljahren schwerer. Foto: Stiftung Lesen/M. Wüstenhagen

Leseförderung eröffnet ihnen Zugänge zu diesem besonderen Medium, muss aber immer wieder darum kämpfen, als kompetenzorientieres Lernen zu gelten. Sie haben vor 20 Jahren den Bundesverband Leseförderung mitgegründet, es gibt engagierte Literaturpädagoginnen und -pädagogen und gute Angebote. Was macht die Arbeit trotzdem so zäh?
BB: Es ist Zeit, den Begriff Leseförderung durch Lesekultur zu ersetzen. Förderung suggeriert ein Defizit. Wenn Eltern sagen, „mein Kind braucht keine Leseförderung“, dann, weil sie das Defizit sehen. Leseförderung ist weit mehr als Lesen lernen. Wenn das Kind lesen kann aber nicht weitermacht, weil es den Spaß daran verliert, ist das ein Defizit.

Wie können Lehrer*innen Leseförderung als Inspiration statt als Konkurrenz zum Lehrplan wahrnehmen?
BB: Indem sie denselben Spaß entwickeln, in Bücherwelten hineinzugeraten, wie die Kinder. Aber gerade dieses „durch Literatur lernen“ vermitteln auch die Hochschulen ihren angehende Lehrer*innen nicht unbedingt, es mangelt an kreativen Ansätzen und neuen Titeln. 2021 haben wir in Berlin deshalb Akademie für literale und mediale Bildung gegründet, um diese Lücken in der Literaturpädagogik zu füllen.

Ich fände es toll, wenn jede Schule eine Literaturpädagogin oder einen Literaturpädagogen hätte.

Dabei tun sich etliche Schulen schon schwer, Experten von außerhalb einzuladen – oder, nach Corona, einladen zu dürfen.
BB: Es geht aber nur über Beziehungen. Beziehungen sind die Grundlage fürs Lesen, dafür braucht es reale Menschen.

Was kann die Bildungspolitik tun, um diese Beziehungen stabiler zu gestalten?
BB: Dass Leseförderung im Berliner Schulgesetz verankert wurde, ist ein Meilenstein. Das war vor zehn Jahren noch undenkbar, Leseförderung galt als Luxus des Kulturbereichs. Die 2021 geschaffene Koordinierungsstelle für Schulbibliotheken im Medienforum der Senatusbildungsverwaltung ist ein wichtiger Schritt. Leseförderung braucht Räume und Stellen. Leseförderung führt dazu, dass Kinder ins Lesen kommen. Das geht nur über Gesetze. Meine Idealvorstellung wäre, dass jede Schule eine Schulbibliothek hat, einen großen, lesefreundlichen Raum und der nicht irgendwo abschüssig im 3.OG des Gebäudes liegt, sondern neben dem Sekretariat mit breiter Fensterfront. Ein gelungenes Beispiel ist die Bibliothek der Charlotte-Salomon-Grundschule in Kreuzberg.

Lesefreundliche Räume, gute Bücher, gute Angebote – trotzdem bleiben nach Corona viele Leser*innen weg. Sie haben identitätsstiftende Geschichten angesprochen, mit wem sollte man am besten in diese „hineingeraten“, um zu bleiben?
BB: Ich würde über das gemeinschaftliche Lesen gehen, zum Beispiel indem Kinder ihre Eltern zum Lesen in die Bibliothek nehmen und die Kinder die Leitung übernehmen. Auch bei Erwachsenen gilt es, die Begeisterung für Literatur immer wieder neu zu entfachen. Was durch Corona tatsächlich mühsamer geworden ist, ja, weil sich die Menschen insgesamt zurückgezogen haben. Lesen war schon immer eher etwas Privates und die Veranstaltungen im Verhältnis kleiner als bei Konzerten oder Theateraufführungen. Literatur hat deshalb jetzt weniger Lobby, auf die sie zurückgreifen kann.