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Ziemlich letzte Freunde

Es gibt kaum eine bessere Kulisse für Apokalypse als den New Yorker Times Square an Silvester, wenn die berühmte Kristallkugel der Menge die finalen zehn Sekunden bis Mitternacht herunterzählen hilft. „Ball drop“ heißt das Ritual. In der Auftaktszene des Buches ist Valentino Prince dabei, 19 Jahre alt, gerade in die Stadt gezogen, um als Model durchzustarten. Wenn nicht hier, wo sonst? „If I can make it there, I make it anywhere“, besang Frank Sinatra den Spirit New Yorks. Valentino jedoch muss sich um Mitternacht im Wortsinn fast die Kugel geben; es fallen Schüsse, und wäre da nicht sein Gesprächspartner Orion, der ihn geistesgegenwärtig zu Boden reißt, hätte die Prophezeiung des Todesboten schneller als erwartet recht behalten: Valentino ist „Der Erste, der am Ende stirbt“.  So heißt das neue Buch von Adam Silvera, und jetzt ist klar wovon es handelt.

Weit nach Mitternacht sei er ins Bett gegangen, verrät der Autor, als er an diesem Morgen in die Hotellobby kommt. Dabei war gar kein Silvester und es ist auch nicht New York hier, sondern Berlin-Mitte. Der 32-jährige US-Amerikaner macht einen Abstecher in die Hauptstadt. Adam Silvera ist auf dem Weg zur Frankfurter Buchmesse, und für drei Stunden Schlaf und noch kein Frühstück ist er gut gelaunt. Grund zur Freude hat er auch. Sein jüngstes Buch (von acht insgesamt) ist sein bisher bestes, obwohl die Messlatte hoch lag: „Der Erste, der am Ende stirbt“, ist das Prequel des Bestsellers „Am Ende sterben wir sowieso“. Die einfühlsame Coming of age-Erzählung über zwei Jugendliche, die sich für unbesiegbar halten und dann mit dem Tod konfrontiert sind, zu toppen, ist Silvera gelungen. Er sagt von sich selbst: „Ich bin beim Schreiben gewachsen.“

Auf der Frankfurter Buchmesse hat Adam Silvera sein Prequel in der deutschen Übersetzung vorgestellt. Das Autorenfoto im Hintergrund ist nicht mehr ganz aktuell, der 32-Jährige ist erblondet.

Wieder geht es um die seltsame Bewegung der „Todesboten“, einer Art Illuminati, die Menschen per Telefonanruf von ihrem bevorstehenden Tod unterrichtet. In bester Absicht: Sie sollen ihre letzten 24 Stunden in Liebe und Würde leben; sich aussöhnen, Klartext reden, Grenzen überwinden. Um die Welt ein Stückchen besser zu verlassen, indem sie vorher noch einmal bewusst da sind. Adam Silvera bezeichnet sich als „spirituell“ und er glaube, sagt er, „an eine höhere Macht, auch wenn sie nicht zwingend Gott heißt für mich“. Die Sinnsuche im Leben, die sich bis auf das letzte Mysterium, den Moment des Ablebens erstreckt, ist zum Totem seines Erzählens geworden. Auf dem Times Square um Mitternacht ist es ausgerechnet Valentino, der den ersten Anruf der Todesboten erhält. Er räsoniert über ein Missverständnis, als die Schüsse fallen und dann Orion, den er erst 20 Minuten zuvor kennengelernt hat, Valentinos Leben rettet, ehe er selbst zusammenbricht. Er ist herzkrank. Im Krankenhaus, dem Patienten geht es wieder besser, dämmert Valentino, was seine Mission ist: „Du kannst mein Herz kriegen“, bietet er Orion an.

Der Pakt wird geschlossen, kaum dass das erste Drittel des Buches gelesen ist; auffällig früh. „Ich wollte rechtzeitig damit heraus, bevor alle auf den Twist warten, weil er sich aufdrängt“, begründet Adam Silvera. Die Rechnung ist aufgegangen. Indem der Lesende den Protagonisten 24 Stunden lang durch Manhattan folgt, saugt er das Leben begierig mit ein. Die temporeiche Erzählung wird jetzt zum Heimspiel, Silvera ist in der Bronx aufgewachsen, bis heute New Yorker. Er war elf Jahre alt, als die Twin Towers einstürzten, was sein Roman, der im Jahr 2010 spielt, ebenfalls aufgreift. „Wir sind alle irgendwo Überlebende. Der Tod kann uns in jedem Alter erwischen. Das ist kein komfortables Thema für die Menschen. Wir haben es lieber bequem.“ Das sei ihm auch während der Pandemie aufgefallen. Seine Geschichte sei deshalb eine Form, „zu ermutigen. Das Leben erneuert sich im Tod.“ Abschiede zu tabuisieren, helfe dabei nicht. „Einen Zustand wie vor Corona werden wir nicht mehr haben. Wir müssen damit umgehen lernen, Überlebende zu sein.“

Beim Interview in Berlin: Drei Stunden Schlaf und trotzdem die richtigen Fragen.

Dieser Botschaft gibt Adam Silvera die Gestalt von Scarlett, Valentinos Zwillingsschwester, die im Buch im Begriff ist, nach New York zu fliegen, aber von äußeren Bedingungen Mal um Mal abgehalten wird. Während sich Orion und Valentino dem Unausweichlichen nähern, erlebt Scarlett hilflos aus der Ferne, wie ihr die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt. In ihr werden sich viele, die den Roman zur Hand nehmen, wiedererkennen. Die Spannung zwischen beiden Erzählebenen trägt bis zuletzt. Das Buch endet damit, dass Orion den Entschluss fasst, für Scarlett da zu sein. Er ist im Begriff, beider Geschichte in einer besseren Welt fortzuschreiben. Ob Adam Silvera dasselbe vorhat, lässt er an diesem Vormittag offen, orakelt aber zumindest, „dass mir beide Figuren sehr ans Herz gewachsen sind“.

Die Schlagworte Abschied und Verlust flicht Adam Silvera ein, ohne dass sie das Narrativ (Leben, Träume verwirklichen) brechen. Sein Wunsch ist, dass sich das auch die Lesenden zu Herzen nehmen: „Das ist unser Universum, aber nicht unser Schicksal.“ So wie in „Am Ende sterben wir sowieso“ gibt es im Prequel eine Liebesgeschichte, die hier mehr Raum einnimmt und dadurch organischer wirkt als beim app-organisierten Date von Mateo und Rufus im ersten Buch (das nun das zweite ist). Und man erfährt, dass Orions Schwester Dalma die App „Letzte Freunde“ programmiert hat, damit todgeweihte Menschen ihren Abschied nicht alleine zelebrieren müssen. Dass die Familie nicht infrage kommt, ergibt sich aus Silveras eigener LBGTQ-Biografie: „Queere Menschen schaffen sich auf diese Weise ein neues Bezugssystem, wenn sie Zuhause fallengelassen werden.“ In beiden Büchern sind diese ziemlich letzten Freunde die entscheidenden Bezugspersonen.

Adam Silvera, „Der Erste, der am Ende stirbt“, ist als gebundene Ausgabe (368 Seiten) im Arctis-Verlag erschienen.

Fotos (3): privat