Stoffe

Rebellische Geister

2016 gelang zwei in den USA lebenden Italienerinnern mit der Sammlung porträtierter „Good night Stories for Rebel Girls“ ein Riesenerfolg. Geschichten mutiger Frauen (und Männer, mittlerweile sogar Kinder und Jugendlicher), die Neues wagten, Ungerechtigkeit oder die Benachteiligung bestimmter Gruppen auf die Agenda der Politik brachten, und die als Vorbilder gelten, sind seitdem im Sachbuch gesetzt. Prominent sein müssen sie nicht unbedingt.

Es war einmal ein Mädchen aus Italien. Elena wurde in der Toskana geboren, einer Region in der Mitte des Landes, die für ihre historischen Städte, ihre Kultur und ihr gutes Olivenöl bekannt ist. Weniger dafür, was sie jungen Meschen an Perspektiven bietet. Für das Dorf in dem Elena aufwuchs, ist die Toskana schon mal gar nicht bekannt. Als Elena Kind war in den 1980er Jahren, gab es im Dorf nicht einmal gleichaltrige Kinder. Zur Schule musste sie in den nächstgrößeren Ort fahren. Nachmittags spielte sie mit ihrem Hund. Heute ist Elena erwachsen und lebt in den USA, wo sie eine Firma gegründet hat, die Spiel- und Lernräume für Kinder konzipiert, die dünn besiedelten Regionen aufwachsen. So wie Elena damals. Was ihr geholfen hat, an sich zu glauben und sich Ziele zu setzen, waren Bücher, erzählt sie. „Vor allem Geschichten, die eine Titelheldin hatten. Wenn Mädchen merken, wie viele starke Frauen es gibt, trauen sie sich etwas zu: Alles!”

Elena Favilli (links) und Francesco Cavallo.

Von ihr und ihrer Kollegin Francesca Cavallo stammt die Idee, 100 Steckbriefe beeindruckender Frauen als „Good Night Stories for Rebel Girls” (übersetzt: Gute-Nacht-Geschichten für rebellische Mädchen) herauszubringen. Einige sind berühmt geworden, als Olympiasiegerin, Star-Architektin oder Nobelpreisträgerin. Andere haben als Modeschöpferin den Stil einer ganzen Generation von Frauen geprägt oder als Bürgerrechtlerin für die Frauen ihrer Generation und die ihrer Töchter gekämpft. Wieder andere sind, wie sie sind, ihre Namen hat man vielleicht schon gehört, muss sie aber trotzdem in die Internet-Suchmaschine eingeben.

Es war einmal ein wasserscheues Mädchen, das hieß Jessica. Eines Morgens spielte Jessica mit ihrer Schwester und ihren Cousinen am Swimmingpool. Irgendwann stellten sich alle am Beckenrand auf und fassten sich an den Händen, um gleichzeitig ins Wasser zu springen. Jessicas Mutter schaute vom Fenster aus zu. Sie vermutete, Jessica würde sich im letzten Moment davor drücken. Doch zur großen Verwunderung sprang Jessica mit den anderen. (…) Von diesem Tag an liebte sie das Wasser. Sie lernte Segeln, wurde Mitglied im Segelverein und beschloss, einmal um die Welt zu segeln. Ohne Zwischenstopp. Sie strich ihr Boot in leuchtendem Pink und taufte es auf den Namen „Ellas Pink Lady”. Sie belud ihr Boot mit Wasser, großen Mengen haltbarer Milch und Lebensmitteln in Dosen. Mit nur 16 Jahren brach sie vom australischen Sydney aus auf. Ganz allein. (…) Sieben Monate später segelte sie wieder in den Hafen. Man hatte ihr einen ganz besonderen Teppich ausgerollt, in leuchtendem Pink, genau wie ihr Boot. 

Die Autorinnen wählten Frauenbiografien jenseits von Lexikon-Einträgen. Sie berichten aus der Kindheit der rebellischen Mädchen. Deren Lebensdaten sind ganz klein unten auf jeder Seite des Buches vermerkt. Das lässt dem Leser den Spaß und den Freiraum, die Biografien einzuordnen. Und es zeigt, dass sich Frauen zu allen Zeiten anstrengen mussten, mehr als die Männer, um ihre Ideen zu verwirklichen oder anerkannt zu werden.

„Ihre Neugier und Unerschrockenheit inspirieren uns.” Elena Favilli.

Beeindruckend illustriert haben die „Rebel girls“ 60 Künstlerinnen, jede mit unverwechselbarem Stil. Das verringert den zeitlichen Abstand zu den teilweise schon gestorbenen Frauen. Denn altbacken kommen sie nicht daher! Für junge Leser hat das Relevanz.

Es war einmal ein junges Mädchen, das träumte davon, Anwältin zu werden. „Anwältin?”, spotteten die Leute. „Sei nicht albern. Anwälte und Richter sind immer Männer. ” Ruth schaute sich um und sah, dass die anderen recht hatten. „Aber es gibt keinen Grund, weswegen sich das nicht ändern sollte”, dachte sie.  Sie studierte Recht an der berühmten Harvard-Universität, zu deren erfolgreichsten Absolventen sie später zählte. Auch ihr Mann studierte in Harvard. „Deine Frau sollte zu Hause bleiben, Kuchen backen und euer Baby hüten”, bekam er oft zu hören. Ihn interessierte das nicht. Zum einen war Ruth alles andere als eine begnadete Köchin, zum anderen kümmerte er sich mit Begeisterung um die kleine Tochter der beiden. Vor allem aber war er stolz auf seine intelligente Frau. Ruth kämpfte leidenschaftlich für die Rechte von Frauen und vertrat als Anwältin Fälle zu Fragen der Gleichberechtigung von Mann und Frau vor dem Obersten Gerichtshof. Schließlich wurde sie selbst zur Richterin an diesem Gericht ernannt – als erst zweite Frau in der Geschichte der USA.  

Nach den Bänden 1 und 2 ist 2020 ein dritter Band „Good night Stories for Rebel Girls“ erschienen, der sich auf die Biografien engagierter Frauen mit Migrationshintergrund konzentriert, darunter die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright, Oscarpreisträgerin Lupita Nyong’o oder Anna Wintour, Chefredakteurin der Modezeitschrift Vogue. Im Stil vergleichbar, aufgeschrieben von dem Briten Ben Brooks, sind die „Stories for Boys who dare to be different“ (2018) und „More Stories for Boys who dare to be different“ (2019). Nicht explizit an junge Leser richten sich die Titel „Rebel Artists. 15 Malerinnen, die es der Welt gezeigt haben“ (2019) und „Rebel Minds. 44 Erfinderinnen, die unsere Welt verändert haben“ (2020). Sie sind aber gleichermaßen gut lesbar.

Abbildungen: Hanser / Kathrin Honesta, Eleanor Davis.