Zuhause in der Königsklasse
Das Spiel der Könige verhilft einem Zehnjährigen, in der neuen Heimat anzukommen. Schach lehrt Ciprian nicht nur ein neues Selbstbewusstsein, es rettet auch sein Leben. Und das seines Vaters. Und das seiner Schwester.
Die Familie stammt aus Rumänien und gehört den Roma an, dem fahrenden Volk, wie Vater Lazar nicht uneitel betont. Sie migrieren nach Frankreich, nachdem sich der älteste Sohn mit Autoritäten angelegt hat, beim Klauen erwischt wurde und droht, ins Gefängnis zu wandern. Das Angebot eines Schleuserduos ist nicht kosher, aber es kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Die Männer bestechen die Verfolger mit Geld und verhelfen der Familie zur Passage nach Paris. Was einfach klingt und in der Vorstellung von Ciprians älterer Schwester Vera einem Happy End wie im Märchen nahekommt, birgt gewaltige Schatten. Neben der betagten Großmutter müssen sie ihr Haustier zurücklassen, einen Tanzbären. Ciprians Vater ist Ursar, ein Bärenzähmer. In Paris aber, soviel ist klar, wird er damit nicht punkten können. Also erhält der Petz die Freiheit – während sich seine menschlichen Begleiter versklaven.
Kaum haben sie die neue Welt erreicht, ist Zahltag. Die Menschenhändler scheuen nicht vor Waffengewalt zurück, um bei den Roma die Schulden einzutreiben. Die Ursari – neben Lazar gibt es den klugen Razan – auch nicht. Es kommt zu einem Mord. Ciprian soll, davon unbehelligt, seinen Anteil am Familieneinkommen als Taschendieb „verdienen“. Wirklich glücklich ist sein Händchen dafür nicht. Stattdessen offenbart sich das wahre Talent des Jungen, als er im Jardin du Luxembourg einen Mann und eine Frau beim Schachspiel beobachtet. Und: Lernt.
Migration ist gegenwärtig ein gewaltiges Thema. Neben den Flüchtlingen die vor dem Krieg in der Ukraine Schutz suchen und ihre Heimat verlassen müssen, machen sich jedes Jahr Hunderttausende Menschen auf den Weg in ein fremdes Land, weil sie sich davon ein (wirtschaftlich) besseres, sichereres Leben erhoffen. Die Volksgruppe der Roma ist historisch schon lange ausgegrenzt. So lange wie die Menschen nomdisch leben, sind ihre Kinder und Jugendlichen von Chancengleichheit weit entfernt, überall in Europa. Der vielbeachtete, ausgezeichnete Xavier-Laurent Petit, u.a. Preisträger des Prix des Lycéens allemands, erzählt das Schicksal einer Ethnie, die eigentlich schon im Abseits gelandet ist, ehe die Geschichte richtig an Fahrt gewinnt. Mit der Metapher des Schachspiels durchbricht Petit die Vorhersehbarkeit der Erzählung und hinterlässt seine Leser mit einer simplen Botschaft, überbracht von zwei sympathisch-skurrilen Franzosen, die an einen Jungen zu glauben gelernt haben: Dein Zug im Leben bleibt nur solange limitiert, wie du (d)eine Rolle ausfüllst.
Xavier-Laurent Petit: Der Sohn des Ursars. Knesebeck, 240 Seiten gebunden, 15 Euro.