Krieg und Frühling
Hunderttausende Menschen sind in den vergangenen Wochen aus der Ukraine geflohen. Über Polen oder die Slowakei nach Deutschland, Österreich und in die Niederlande, nach Ungarn, nach Rumänien. Zugleich sind Hunderttausende geblieben. Weil sie nicht fliehen können – oder wollen. Menschen wie Varenka, die Frau, deren Hütte in unmittelbarer Nähe des Waldes steht. Als sie die Nachricht vom Krieg in ihrem Land erreicht, beschließt sie zu bleiben, um andere Flüchtende zu versorgen. Das, ist sich Varenka bewusst, ist auch eine wichtige Aufgabe. Angst vor Verlust und Tod hat sie trotzdem. Deshalb betet sie jeden Abend, Gott möge „eine schützende Mauer um ihr Häuschen ziehen“.
Bernadette Watts hat diese Geschichte vor 50 Jahren gezeichnet. Tatsächlich spielt das schnörkellos schön bebilderte Buch nicht in der Ukraine – sondern in Russland. Ausgerechnet das Land das nun angreift, wird im Buch angegriffen. An der Aussage ändert sich nichts: Krieg ist grausam. Krieg beginnt politisch, es geht um Macht, und trifft letztlich die am härtesten, die nichts mit Macht zu tun haben.
Varenka wehrt sich auf ihre Art. Sie nimmt gestrandete Menschen auf, einen alten Mann, einen jungen Mann, ein Mädchen. Sogar eine Ziege und ein Vogel finden Unterschlupf, nach dem Motto: Raum ist in der kleinsten Hütte. Varenka gelingt es, allabendlich eine Mahlzeit zuzubereiten und frisches Brot zu backen. Sie hat klug gewirtschaftet. Alle werden satt. Nach dem Essen kniet die „Familie“, wie Varenka ihre Gemeinschaft tauft, betend vor der Marien-Ikone der Gastgeberin. Ein Symbol, wie es typisch ist in christlich-orthodoxen Familien, oder: war, zumindest zur Entstehungszeit des Buches, 1971.
Der Bitte, eine Mauer zu errichten, Varenkas „Familie“ zu beschützen, kommt Gott tatsächlich nach, auf seine Art. Die Britin Watts verneigt sich damit vor der Natur als Schöpfung jenseits menschlicher Machtradien und findet darin eine Metapher für den Frieden. Am Ende der Geschichte darf es Frühling werden. Die Mächtigen haben nicht das letzte Wort.
Der Krieg in der Ukraine macht „Varenka“ zu einer stark nachgefragten Lektüre. Das Buch (19. Auflage) ist aktuell vergriffen. Der NordSüd-Verlag hat entschieden, die digitale Version HIER kostenfrei zur Verfügung zu stellen, damit sie in Bibliotheken und Schulen eingesetzt werden kann, um für das Unaussprechliche Worte zu finden.