Stoffe

Die Metapher für unterwegs

„Und ich sehe“, ist der Schlüsselsatz des Buches. Nach einer übernatürlichen Begegnung vor einem öffentlichen Bücherschrank, kann Evie in die Zukunft von Liebespaaren schauen. Bedingung: Sie müssen sich küssen und Evie den Moment beobachten. Kein guter Zeitpunkt für Visionen, findet die 17-Jährige, ihre Eltern lassen sich scheiden und ihr Vater will ein weiteres Mal heiraten.

Während Evies Mutter und die jüngere Schwester mit der Situation ihren Frieden gemacht haben, ist Evie voller Wut und Trauer. Sie hat ihre Bilderbuchfamilie verloren, sie hat ihren Dad verloren. Sie muss ihre Kindheit hinter sich lassen und kann das (gefühlt) nicht selbstbestimmt tun. Als Zufluchtsorte bleiben ihr die beste Waffelbude Los Angeles‘, Treffpunkt ihrer Clique, sowie die Tanzschule von Maggie und Archibald Johnson, wo Evies Talent während einer Probestunde entdeckt und gefördert wird. Die Struktur der Erzählung kündigt bereits ein dezentrales Coming of Age an. Es wird einige Regiewechsel geben. Dass es nicht zum geplanten Road Trip kommt, den Evie und ihre Freunde nach dem High School-Abschluss planten, fügt sich klug und aufrichtig ins Konzept.

Fehlt noch Prince Charming, um den Anteil der Liebesgeschichte des Buchs ins Bild zu setzen. Evie merkt selbstironisch an, dass sich Liebespaare – nicht nur in der Literatur – häufig erstmal unsympathisch sind. Das trifft auch auf sie und Xavier zu. Genauer: nur auf sie. Xavier, genannt „X“, ist dem Leser sofort sympathisch, obwohl er die typischen Angebersprüche raushaut, einen auf Rockstar macht und seine Ex am Telefon abwimmelt, als Evie und er zum ersten Mal aufeinandertreffen. Prompt stellt sich heraus: Beide sollen die Tanzschule in einem Amateur-Turnier vertreten. Als Paar. X ist der Enkel der Tanzschulinhaber.

Dass er ein anständiger Charakter ist, kann man dem liebevollen Umgang mit seinen Großeltern ablesen, der Art wie er zuhört und „hinsieht“, obwohl seine Visionen andere sind als Evies. X hat seinen besten Freund bei einem Autounfall verloren und beschlossen, keine Erinnerungen an eine Zukunft zu verschwenden, die es nicht mehr geben wird. Das klingt stark nach den Jugendbüchern von Adam Silvera oder John Green, und es passt auch in den gegenwärtigen Ausdruck US-amerikanischer Young Adult-Literatur. X jedenfalls wird Evie bestärken, nachsichtig mit sich zu sein und ihrem Dad zu verzeihen. Die Vision, die sie von der Liebesgeschichte seiner Großeltern hat, liefert den Untertitel: „Herzen werden größer, damit du mehr lieben kannst.“

Das Buch gewinnt durch seine Nebenfiguren. Das macht es so besonders, denn während die Liebesgeschichte vorhersehbar ist und linear verläuft, bringen gerade die Charaktere am Rand Dynamik und Tiefgang hinein. Das gilt etwa für die Tanzlehrerin „Fifi“, die gefühlt nur auf Zuruf spricht aber dann das Richtige sagt, für Evies besten Freund Martin, der lernt, zu seiner Sprache zu finden, oder für Shirley, die zweite Frau von Evies Vater. Sie ist der von Yoon in Worte gefasste Beweis, dass Liebe die Summe ist aus Festhalten und Loslassen, beides zu seiner Zeit. Die Lebensaufgabe besteht darin, die Übergänge nicht zu verpassen. Auch ohne Visionen. Das kapiert Evie. Das kapiert der Leser. Der Titel „Als wir tanzen lernten“ ist die Metapher für unterwegs.

Nicht zuletzt lohnt der Blick in den Epilog der Autorin: Nicola Yoon, US-Amerikanerin mit jamaikanischen Wurzeln, berichtet von zwei Schicksalsschlägen bzw. Verlusten, die das Entstehen von „Als wir tanzen lernten“ begleiteten, und dass das Schreiben therapeutisch für sie war. Mit diesem Zusatzwissen liest sich das Buch noch einmal völlig anders und macht es dem Leser leichter, Yoon den unnötig seichten Twist am Ende zu verzeihen. Dass es das Buch überhaupt gibt, ist ihr Befreiuungsschlag.

Nicola Yoon: Als wir tanzen lernten. Cbj, 384 Seiten gebunden, 20 Euro. Als Hörbuch 17,95 Euro.

Foto: David Yoon