Die Olive ist eine Erbse
Julie Murphy schliff vor sechs Jahren mit „Dumplin'“ (in deutscher Übersetzung 2018 erschienen) einen Rohdiamanten zum Jugendbuch. Die Suche eines Teenagers nach dem Platz im Leben hat sie so schnörkellos erzählt, dass die Geschichte von Willowdean „Dumplin“ Suchtpotential entwickelte. Seitdem ist Murphy eine d-e-r Stimmen im US-Jugendbuch (neben Becky Albertalli und Angie Thomas). Zeit für die Texanerin, sich an einem Kinderbuch zu versuchen. Damit die Bruchstelle nicht so sehr zu Tage tritt, richtet es sich an junge Leserinnen und Leser ab zwölf Jahre – an der Schwelle zur Zielgruppe mit eben jener Frage auf dem Radar, wo man im Leben steht und in welche Richtung der Kompass ausschlägt.
Ganz ohne Reibung findet die Autorin nicht in die jüngere Erzählstimme hinein. Dabei ist ihre Hauptfigur Patricia DiMarco genau der Typ Mädchen, mit dem Julie Murphy sonst hohe Empathiewerte erlangt: Eine gute Beobachterin, etwas verschroben, schulisch und beim Interesse an Jungs Durchschnitt, im Begriff, sich von den Eltern abzunabeln. Erstmal versuchen das die Eltern, sie lassen sich scheiden – und scheitern. Patricias Vater zieht statt nach Conneticut (dort ist Julie Murphy geboren) zwei Häuser weiter. Die Tochter pendelt für je eine Wochenhälfte zwischen beiden – und findet ihren Ausweg in der Mitte. Im Haus von Miss Flora Mae, die einen für heutige Verhältnisse erstaunlich analogen Kummerkasten in der lokalen Tageszeitung führt. Patricia liest und verehrt die Lebensberatung gleichermaßen, deshalb muss sie nicht lange überlegen, als Miss Flora sie bittet, während ihrer Abwesenheit die Post zu sortieren. Das Mädchen wächst über sich hinaus, und als ihr dabei der Brief einer verzweifelten Mitschülerin in die Hände fällt, schreibt sich der Rest von selbst. Einen Hinweis gibt der englische Titel des Buches, im englischen Original heißt er übrigens „Dear Sweet Pea“ (Liebe süße Erbse), beides eine Anrede wie im Brief. „Sweet Pea“ ist Patricias Spitzname (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Figur aus der US-Serie Riverdale).
In der deutschen Übersetzung heißt Patricia Olivia, quasi Olive statt Erbse. Ihr „weltbester Freund“ Oscar darf seinen Namen behalten und der Konflikt in der Freundschaft der beiden, der sich im Laufe des Lesens zuspitzt, bleibt auch. Die Art, wie Julie Murphy die Erzählung ausdifferenziert, macht deutlich: Es geht eigentlich um Oscar und Sweet Pea, aka Olivia, weniger um das pubertäre Gezänk der Mädchen in der Klasse. Das sorgt letztlich aber dafür, dass die Titelheldin einen Fehler begeht. Nicht, indem sie Miss Floras Briefe beantwortet, sondern als sie Oscar düpiert. Der reagiert wie ein typischer Junge – und geht zum Boxtraining. Weil das Klischee so überzeichnet ist, ruiniert es die Geschichte keineswegs, sondern sorgt für ein selbstkritisches Moment des Lesenden gegenüber den Buch-Erwachsenen: Die könnten ja auch mal die alten Zöpfe abschneiden.
Wie Sweet Pea Olivia den Knoten löst, ist dafür aber die Sternstunde des Buches. Gelungen erzählt in der typischen Murphy-Lebensweisheit. Klar ist allerdings auch: Julie Murphys Genre ist und bleibt das Jugendbuch. „Liebe Olivia, wie buchstabiert man Freundschaft?“ ist nur scheinbar ein Titel für eine jüngere Zielgruppe.
Foto: Texas Teen Book Festival