Nachts auf der Achterbahn

Wenige Tage vor Erscheinen des Jugendbuchs „Lügentochter“ der US-Amerikanerin Megan Cooley Peterson berichten Berliner Medien davon, dass das Riesenrad des seit Jahren stillgelegten Spreeparks im Plänterwald abgebaut und saniert werde. Beim Lesen hatte ich prompt dieses Bild vor Augen. Denn eine Schlüsselszene des Buches spielt nachts in einem stillgelegten Freizeitpark, wenngleich auf der Achterbahn.

Piper, 16 Jahre alt, hält Wache auf einer Plattform des Fahrgeschäfts. Ganz wohl ist ihr nicht. Erstens, weil der Ausguck wackelig ist. Zweitens, weil Piper die Maßnahme zu hinterfragen beginnt. Das hat sie zuvor nicht getan. Was ihr Vater Curtis anordnet, ist im wörtlichen Sinne das Evangelium. Curtis leitet eine spirituelle Gemeinschaft. Auch Piper gehört ihr an, ist aber noch kein vollwertiges Mitglied. Dazu muss sie ihre so genannte Initiation durchlaufen, ein Aufnahmeritual, wobei nicht eindeutig ausgesagt ist, worin es besteht. Dass Piper sich darauf einlässt, steht außer Frage. Sie ist ehrgeizig. Sie möchte ihrem Vater beweisen, wie ernst sie die Gemeinschaft nimmt. Deshalb harrt sie nachts auf der Achterbahn aus, denn Curtis befürchtet, dass die Gemeinschaft von Sicherheitskräften überrannt und eingenommen wird. Was auch passiert.

Als Piper wieder zu sich kommt, ist sie bei Jeannie, die der Leser für eine Sozialarbeiterin hält. In Rückblenden erfährt er, dass Piper erst im Krankenhaus war, nachdem sie „befreit“ und von ihren Eltern und Geschwistern getrennt wurde. Allerdings – das zeichnet sich bald ab – war das keine Invasion, sondern eine Rettung. Piper gehörte nicht dorthin. Sie ist die „Lügentochter“.

Im englischen Original ist der Titel The Liar’s daughter eindeutig, Die Tochter des Lügners, das stellt klar, dass mit Curtis Blackwell, Pipers Vater etwas nicht stimmt. Das Mädchen wurde unfreiwillig Teil der Familie. Die deutsche Übersetzung vermittelt den Eindruck, dass Piper ihre Herkunft absichtlich verleugnet. Das ist nicht der Fall. Sie ist ahnungslos, maximal will sie ihre Bauchgefühl, das sich in Jeannies Obhut meldet, stumm schalten. Dafür dämmert dem Leser, wo Pipers tatsächliche Familie steckt, und welche Rolle Jeannies Töchter Amy und Jessica spielen.

Megan Cooley Petersons Jugendbuchdebüt ist von ihrer eigenen Biografie inspiriert. Die Glaubensgemeinschaft, in der sie aufwuchs, war nicht so radikal wie die im Buch, und ihr Leben hat nicht den harten Bruch, den sie Piper zumutet. Gleichwohl spricht die Autorin rückblickend von einer Sekte und ermutigt Jugendliche, sich ihre eigenen Gedanken zu machen, wo immer sie in punkto Glaube stehen. Die Frage stellt sich am Schluss dieses temporeichen Thrillers ganz von selbst. Auf das Bild des Mädchens auf der Achterbahn blickt man dann auch mit anderen Augen.

Ab 13 Jahre. Erschienen bei Magellan. Fotos: flickr / Megan Cooley Peterson